Meldungen aus dem Landesverband Hessen
Meldungen aus dem Landesverband Hessen

»Ein Krieg gegen psychisch Erkrankte, sozial Stigmatisierte und Menschen mit Behinderungen«

Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde

Der »Euthanasie«-Gedenkstein auf dem Gelände der Vitos Klinik Eichberg. Die Darstellung von Spielzeug und Essgeschirr erinnert insbesondere an die Mordopfer der dortigen »Kinderfachabteilung« (1941-1945). G. Hartmann, Landesverband Hessen

In einer Feierstunde auf dem Gelände der Vitos Klinik Eichberg in Eltville-Erbach (Rheingau-Taunus-Kreis) hat die Vitos Rheingau gGmbH der Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde gedacht. Jedes Jahr am 1. September wird an diesem Ort an die Frauen, Männer und Kinder erinnert, die von 1939 bis 1945 in der damaligen »Landesheilanstalt Eichberg« ermordet oder von dort aus in den Tod in der Gaskammer von Hadamar geschickt wurden. Auf Einladung von Vitos Rheingau hielt Dr. Götz Hartmann, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter das historische Forschungsprojekt des Volksbunds in Hessen betreut, die Gedenkrede vor den rund 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der diesjährigen Feierstunde.

 

»Euthanasie«: Ein Wort der Tätersprache

Mit dem Begriff »Euthanasie«, der ursprünglich ein gutes, nämlich leidensfreies Sterben meinte,  bezeichneten die Nationalsozialisten die von ihnen geplante und ins Werk gesetzte Tötung von Menschen, die  aufgrund medizinischer und sozialer Ausgrenzungskriterien im NS-Staat unerwünscht waren: »'Euthanasie' in diesem Sinne ist ein Wort aus der Sprache der damaligen Täterinnen und Täter – das müssen wir immer bedenken, wenn wir den Begriff verwenden, und die Anführungszeichen sozusagen mitsprechen«, hob Götz Hartmann zu Beginn seiner Rede hervor.

Das Datum der jährlichen Feierstunde am »Euthanasie«-Gedenkstein auf dem Klinikgelände ergibt sich aus einem von Adolf Hitler unterzeichneten und auf den 1. September 1939 zurückdatierten Schreiben, mit dem er den Chef seiner Kanzlei und seinen Leibarzt beauftragte, die Tötung von ihm so genannter »unheilbar Kranker« vorzubereiten und umsetzen zu lassen. »Mit der Rückdatierung des Schreibens aus dem Oktober 1939 auf den Tag, an dem einige Wochen zuvor mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, sollte offensichtlich ein Zusammenhang hergestellt werden«, sagte Götz Hartmann: »Ein Zusammenhang zwischen dem äußeren Krieg gegen andere Staaten und Nationen und einem Krieg im eigenen Land, der sich gegen Menschen richtete, von denen die Nationalsozialisten ihre Idealvorstellungen von Körperlichkeit und 'Rassereinheit' bedroht fühlten: ein Krieg gegen psychisch Erkrankte, sozial Stigmatisierte und Menschen mit Behinderungen.«

Kinder als erste Opfer

Allerdings reicht die Frühphase der Vorbereitung des Mordens noch einige Monate vor den Beginn des Zweiten Weltkriegs zurück. Die ersten Opfer der gezielten Tötung im Namen der nationalsozialistischen »Rassenhygiene« waren Kinder, die mit bestimmten genetischen Defekten und Geburtsfehlern zur Welt gekommen waren. Seit 1939 mussten sie von Hebammen und Ärzten den Gesundheitsämtern gemeldet werden. Ärztliche Gutachter in einer Tarnorganisation mit dem Namen »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« entschieden, ob die gemeldeten Kinder am Leben bleiben durften oder »behandelt« – gemeint war: getötet – werden sollten. Insgesamt wurden in etwa 40 so genannten »Kinderfachabteilungen« – ein weiterer Tarnbegriff der Tätersprache – von Krankenhäusern und Anstalten im ganzen Reichsgebiet mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche durch überdosierte Medikamente und absichtliche Unterernährung ermordet.

Hundertausende Menschen ermordet

Wie viele Menschen der NS-»Euthanasie« insgesamt zum Opfer fielen, wird unterschiedlich geschätzt. Als gesichert gilt, dass die Zahl der Ermordeten in die Hunderttausende ging. Auch krank und arbeitsunfähig gewordene Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und Häftlinge in Konzentrationslagern wurden gezielt getötet. »Von mindestens 200.000 Opfern im ganzen deutsch beherrschten Europa müssen wir ausgehen, doch gibt es auch Schätzungen, die weit darüber liegen«, sagte Götz Hartmann. Außerdem sei mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen, vor allem in der zweiten, zeitlich längeren Phase der Morde zwischen 1941 und 1945, als die Opfer nicht mehr vorwiegend durch Giftgas, sondern durch Medikamente und Hunger getötet wurden.

Abschluss in schweigendem Gedenken

Die damalige »Landesheilanstalt Eichberg« war auf mehrfache Weise in das System der »Euthanasie«-Morde eingebunden. Götz Hartmann erinnerte in seiner Ansprache besonders an die nahezu 500 ermordeten Kinder und Jugendlichen der »Kinderfachabteilung«, die von 1941 bis 1945 in einer Baracke der Klinik bestand. »Ich glaube, sie müssen es gespürt haben – unabhängig davon, ob sie dieses Empfinden gedanklich fassen und sprachlich ausdrücken konnten –, dass die Männer und Frauen in den Arztkitteln, die Schwestern und Pfleger ihnen nichts Gutes wollten, dass sich hinter scheinbarer Zuwendung eine böse Absicht versteckte, dass es nicht Freundlichkeit war, die ihnen, wenn überhaupt, Spielzeug anbot, dass das Essen vergiftet war, dass die Spritze sie töten sollte«, sagte Götz Hartmann. Was die Opfer empfunden haben müssten – Ausgeliefertsein, Unheimlichkeit, Furcht –, sei unvorstellbar, fügte er hinzu und schloss seine Ansprache mit der Einladung an die Zuhörerinnen und Zuhörer, der Ermordeten gemeinsam in einer Schweigeminute zu gedenken.

Volksbund an der Aufarbeitung beteiligt

Der Volksbund in Hessen ist seit vielen Jahren an der Aufarbeitung der »Euthanasie«-Verbrechen beteiligt. Zuletzt setzte er 2021 den behördlichen Auftrag um, die Außengrenzen der Kriegsgräberstätte Idstein-Kalmenhof (ebenfalls Rheingau-Taunus-Kreis) durch Grabungen am Rand des bestehenden Gräberfeldes festzustellen. Auch die damalige Idsteiner »Heilerziehungsanstalt« Kalmenhof wurde im Rahmen der »Euthanasie«-Morde zwischen 1942 und 1945 als »Kinderfachabteilung« missbraucht. Für die mehreren Hundert Opfer wurde zur Täuschung von Angehörigen und Öffentlichkeit ein Gräberfeld angelegt, das wie ein gewöhnlicher Anstaltfriedhof aussehen sollte. Die Grabstätten waren mit nummerierten Blechkreuzen gekennzeichnet, damit der Eindruck von Einzelgräbern entstand. In Wahrheit wurden in vielen Gräbern mehrere Tote verscharrt – was nicht nur durch Zeitzeugenerinnerungen belegt ist, sondern inzwischen auch durch die Grabungen von Volksbund-Umbetter Joachim Kozlowski nachgewiesen wurde.

An die »Euthanasie«-Mordopfer der »Kinderfachabteilungen« am Beispiel des Kalmenhofs erinnert der Landesverband aktuell in seinem Beitrag zur Wanderausstellung »Hebammen in Hessen gestern und heute« der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung.