Meldungen aus dem Landesverband Hessen
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"Ich habe mich immer gefragt, wo mein Großvater begraben ist."

Angehörige eines sowjetischen Kriegsgefangenen besuchen die Kriegsgräberstätte Klein-Zimmern

Die Vorderseite der "Personalkarte I" von Nikita Larschin. © Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation (CAMO)

"Für mich war es ein richtiger Schock", erzählt Ludmilla Bagdonas. "Ich habe mich immer gefragt, wo mein Großvater begraben ist. Und ich habe 30 Jahre lang nur 120 Kilometer von seinem Grab entfernt gelebt." Ludmilla Bagdonas, im sibirischen Krasnojarsk geboren und aufgewachsen, zog 1989 mit 24 Jahren aus der Sowjetunion nach Rheinland-Pfalz. Der Großvater, das war Nikita Larschin. "Wenn ich als Kind meine Großmutter besucht habe, habe ich gefragt: Wo ist mein Opa? Sie hat gesagt: Er ist in den Krieg gegangen und nicht zurückgekommen." Seit kurzem weiß Ludmilla Bagdonas, dass ihr Großvater 1944 als Kriegsgefangener im Lazarett Klein-Zimmern (Landkreis Darmstadt-Dieburg) verstorben ist. Begraben wurde er auf dem "Russenfriedhof" südlich des Ortes. Am 1. Mai hat sie mit ihren beiden erwachsenen Söhnen zum ersten Mal die Kriegsgräberstätte besucht. "Es gibt keine Grabsteine dort. Die Toten wurden in Massengräbern verscharrt", sagt Ludmilla Bagdonas. "Irgendwo dort auf dem Gelände liegt mein Großvater, genauer kann man es nicht wissen."

September 1941. Ein Dorf in Tatarstan, 1.000 Kilometer östlich von Moskau. Drei Monate zuvor haben die Deutschen die Sowjetunion überfallen. Noch rückt die Wehrmacht scheinbar unaufhaltsam vor. Hunderttausende sowjetische Soldaten sind bereits in Gefangenschaft geraten. Nun muss auch Nikita Larschin in den Krieg. "Mein Großvater war 1903 geboren. Er hatte acht Kinder, aber nur drei haben überlebt", erzählt Ludmilla Bagdonas. Das jüngste, ihr Vater, ist zu der Zeit gerade ein halbes Jahr alt. Irgendwann im Herbst oder im folgenden Winter nehmen die Deutschen den Rotarmisten Nikita Larschin gefangen. "Religion: Griechisch-katholisch, Zivilberuf: Bauer", tragen sie in die Personalkarte ein, die sie für jeden Gefangenen anlegen.

Dieses Dokument ist die Hauptquelle für Nikita Larschins Schicksal. Verstarb ein Gefangener oder wurde er aus der Gefangenschaft entlassen, wurde seine Personalkarte an die "Wehrmachtauskunftstelle" in Berlin abgegeben (ab 1943 aus Sicherheitsgründen nach Meiningen in Thüringen ausgelagert). Deren Bestände wurden bei Kriegsende von US-Truppen sichergestellt und, soweit sie die sowjetischen Kriegsgefangenen betrafen, den sowjetischen Stellen übergeben. So gelangten sie im Sommer 1945 in die Sowjetunion und wurden dort ausgewertet. Die sowjetischen Bearbeiter fügten den Personalkarten handschriftliche Notizen hinzu, welche die Namen der Gefangenen auch im Russischen lesbar machten und einzelne deutsche Vermerke übersetzten. Der Quellenbestand der Kriegsgefangenen-Personalkarten befindet sich heute im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation in Podolsk. Seit 2008 ist er über die Datenbank "OBD Memorial" öffentlich zugänglich.

"In dieser Datenbank haben meine Verwandten in Russland die Personalkarte gefunden", sagt Ludmilla Bagdonas. Nikita Larschin wurde im April 1942 dem "Stammlager (Stalag) IX B" bei Bad Orb zugeteilt. Das besagt ein Stempel auf der Rückseite der Karte. Dass er zur Arbeit in einem Landwirtschaftsbetrieb abkommandiert war, geht aus dem Dokument nicht hervor. Ludmilla Bagdonas' Familie weiß es von einem Mitgefangenen, der nach dem Krieg in die Heimat zurückkehrte. Im Februar 1944 wurde Nikita Larschin krank in das Lazarett Dieburg eingewiesen, dies ist wieder auf der Karte eingetragen. Ludmilla Bagdonas hat durch eigene Recherchen im Internet herausgefunden, was die Notiz im Fall ihres Großvaters bedeutete: Er kam in das Teillazarett für serbische, italienische und sowjetische Gefangene, das im beschlagnahmten St.-Josefshaus in Klein-Zimmern untergebracht war. Dort starb er am 10. April 1944.

Sowjetische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft wurden von den Verantwortlichen grundsätzlich mit Absicht so behandelt, dass ihr Überleben stets bedroht war. Wenn sie aus ihren Lagern oder Arbeitskommandos in das Klein-Zimmerner Lazarett eingeliefert wurden, waren sie in der Regel durch Unterernährung stark geschwächt und vielfach bereits schwer krank. Die vorsätzlich unmenschliche Behandlung, die von der nationalsozialistischen Rassenideologie geleitet war, setzte sich auch im Lazarett fort. Die "Russen" erhielten lediglich dünne Decken und nur ganz geringe Essensrationen. Nach dem Krieg erinnerte sich ein ehemaliger serbischer Mitgefangener daran, dass die sowjetischen Gefangenen im Abfallhaufen nach Nahrungsmitteln gesucht hatten, auch wenn diese bereits verrottet waren. Weil noch nicht einmal alle den lebensnotwendigen Essnapf erhielten, mussten die anderen an dessen Stelle alte Konservendosen benutzen.

Entsprechend hoch – und wesentlich höher als bei den Gefangenen der anderen Armeen – war die Sterblichkeit unter ihnen. Nach ihrem Tod wurden sie ohne Särge und Namenskennzeichnung, in Ölpapier eingeschlagen, auf dem "Russenfriedhof" in Sammelgräbern beerdigt. Von 379 der sowjetischen Gefangenen, die im Klein-Zimmerner Lazarett verstorben sind, waren bisher schon die Namen bekannt. Mit Nikita Larschins Namen ist nun ein weiterer hinzugekommen. Die Gesamtzahl der auf der Kriegsgräberstätte beerdigten Toten muss jedoch weit höher liegen.

"Meine Söhne haben gesagt: Du musst aufschreiben, was du weißt, sonst geht alles verloren", sagt Ludmilla Bagdonas, die bei ihrer Recherche auch Kontakt zum Landesverband Hessen aufgenommen hat. Für die Kriegsgräberstätte Klein-Zimmern wünscht sie sich, dass auch die zuständige Gemeinde ihren Teil der Verantwortung dafür übernimmt, die Geschichte des "Russenfriedhofs" vor dem Vergessen zu bewahren: "Es müsste eine Tafel geben, mit genauen Informationen, auch auf Russisch, damit Angehörige, die kein Deutsch verstehen, sie lesen können", meint sie. "Und eine Liste der Toten, von denen die Namen bekannt sind, ebenfalls in beiden Sprachen."

Auch die Gedenkveranstaltung am 8. Mai, die der Landesverband gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Goetheschule Dieburg auf der Kriegsgräberstätte abgehalten hat, sollte die zuständige Kommune an ihre Verpflichtung erinnern, die inzwischen bekannten Namen der Toten auf dem Friedhof kenntlich zu machen. Das von zwei Schülern der Goetheschule aufgezeichnete Gedenken kann auf einer eigens dafür eingerichteten Internetseite nachträglich mitverfolgt werden.