Die Geschichte von Grab 259
Am 18. September 1963 wurden bei Straßenbauarbeiten in der Nähe von Wirtheim bereits zum zweiten Mal in einer Woche – nach dem ersten Fund am 11. September – menschliche Gebeine entdeckt. Ein noch am selben Tag angehörter Zeuge wies die Kriminalpolizei zusätzlich auf eine Stelle in einem nahe gelegenen Acker hin: Dort sei 1945 ein dritter Toter verscharrt worden. Aus den Aussagen war zu schließen, dass auch dieser Tote ein KZ-Häftling gewesen sein musste, der auf dem Evakuierungsmarsch aus den Adlerwerken von den SS-Wachen ermordet worden war. Die Suche nach den sterblichen Überresten des dritten Toten wurde von der Kriminalpolizei aber zunächst zurückgestellt, bis der bezeichnete Acker abgeerntet war. Sie fand erst am 7. Oktober 1963 statt – und blieb erfolglos.
So lange wartete der zuständige Beamte im Wiesbadener Regierungspräsidium aber nicht ab. Schon am 24. September sandte er ein Schreiben an den Magistrat in Schlüchtern und teilte mit, dass bei Wirtheim »zwei weitere Leichen gefunden« worden seien – nach dem bereits am 18. September mitgeteilten Fund des 11. Septembers –, die ebenfalls auf der Kriegsgräberstätte beigesetzt werden sollten.
Der in Schlüchtern zuständige Standesbeamte konnte daher, wenn er aus den beiden Schreiben des Regierungspräsidiums vom 18. und 24. September 1963 »einen« und »zwei weitere« Tote zusammenzählte, im guten Glauben, aber dennoch irrtümlich davon ausgehen, dass insgesamt drei Tote auf die Kriegsgräberstätte zugebettet werden sollten. Dies notierte er handschriftlich am 2. Oktober auf dem zuletzt eingegangenen Schreiben aus dem Regierungspräsidium. Der Quellenwert der Notiz ist hinsichtlich der Zahl der Toten jedoch gering, denn die Suchgrabung nach dem dritten Toten auf dem Acker bei Wirtheim hatte zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht stattgefunden. Dies sollte erst fünf Tage später geschehen, am 7. Oktober, und dann erfolglos sein, wie der ermittelnde Kriminalkommissar am selben Tag in seinem Bericht festhielt. Es blieb bei zwei Toten, deren Gebeine aus Wirtheim nach Schlüchtern zu überführen waren.
Der Notiz des Standesbeamten vom 2. Oktober ist weiterhin zu entnehmen, dass die bereits gefundenen Gebeine mittlerweile in der Schlüchterner Leichenhalle aufbewahrt wurden – in welcher Art von Behältnis(sen), ist unbekannt, doch hatte der Standesbeamte offenbar nicht hineingesehen oder jedenfalls aus dem Anblick der wahrscheinlich ungeordneten Knochen keinen zutreffenden Schluss über die Zahl der Toten gezogen, deren Überreste hier auf ihre erneute Beisetzung warteten.
Nachdem der Irrtum, es handele sich bei den Gebeinen aus Wirtheim um die Überreste von drei Toten, sich einmal bei den beteiligten Akteuren fest etabliert hatte und niemand einen Anlass zum Zweifeln sah, mussten auf der Kriegsgräberstätte drei Gräber geschaffen werden. Zwei Gräber wurden neu angelegt (343 und 344), ein drittes (259) war durch die Überführung des dort zunächst bestatteten deutschen Soldaten in ein Familiengrab frei geworden. Diese Grabstellen wurden zur Aufnahme der Gebeine bestimmt.
Der Irrtum hinsichtlich der Zahl der zu bestattenden Toten kann den Umbettern letztendlich nicht verborgen geblieben sein, doch fiel er ihnen möglichweise erst am Tag der Einbettung auf, als das Behältnis/die Behältnisse mit den Gebeinen geöffnet wurde(n). Wie sie mit ihrer Entdeckung umgingen, ist nicht bekannt: Legten sie die Gebeine in zwei Gräber und ließen das dritte frei? Aber welches war für sie das dritte? Oder verteilten sie die Gebeine vermischt über alle drei Gräber, 343, 344 und 259? Oder fiel ihnen möglicherweise doch gar nichts auf? All dies bleibt offen. Zuletzt jedenfalls wurden auf den Sockelsteinen aller drei Gräber die neuen Bronzetafeln mit der Aufschrift »Ein unbekannter Kriegstoter † 1945« angebracht.
Auf dem Lageplan der neuen Informationstafel von 2023 im Eingangsbereich der Kriegsgräberstätte findet sich das Grab 259 wie die Gräber der Opfer des Todesmarsches farblich hervorgehoben, aber zusätzlich mit einem Fragezeichen versehen.