Gewalt entsteht im Denken
Es lassen sich viele Erkenntnisse aus dem Beispiel Ziegenhains gewinnen, die über den konkreten Ort hinausweisen. Zu den wichtigsten gehört der Wert, den Kriegsgräberstätten als historisch-politische Lernorte haben können. Die Aufarbeitung – soweit möglich – der genauen Umstände, unter denen Millionen Menschen im Rahmen von Kriegshandlungen und deren Folgen zu Tode gekommen sind, legt den Blick auf Ursachen der Entstehung von Inhumanität und Massengewalt frei; darauf, dass der Krieg nicht ein Naturgesetz ist, sondern politisches Handeln die militärischen und zivilen Opfer verursacht. Das friedenspädagogische Anliegen, Menschen in ihren Überzeugungen und ihrem Handeln für die Entstehungsbedingungen von Gewalt zu sensibilisieren, ist auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtet. Es gilt daher auch, Gegenwartsbezüge herzustellen, heutige Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren und vor allem aktuelle Feindbilder aufzulösen – einschließlich solcher, die Russland gelten.
Auf dem vor Ort als „Russischer Soldatenfriedhof“ bekannten Gelände im hessischen Klein-Zimmern sind über 400 sowjetische Kriegsgefangene begraben, die in einem benachbarten Lazarett an den Folgen von Krankheit, Zwangsarbeit und Unterversorgung zugrunde gingen. Wie viele Menschen genau bestattet wurden und wer sie waren, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit bestimmen. Mit ihrem Leben verloren sie also auch Identität und Biographie. Durch Dokumente, die nach Kriegsende in die Sowjetunion gelangten, sind jedoch 380 Namen von sowjetischen Gefangenen bekannt, die im Lazarett von Klein-Zimmern verstarben. Eine Namenliste liegt auf Deutsch und Russisch vor. Sie wurde von der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten erstellt und dem Volksbund in Hessen zur Verfügung überlassen. Auf der Internetseite des Landesverbands kann die Liste eingesehen werden. Im Bildungsprojekt „Wir schreiben eure Namen“ arbeitet der Landesverband außerdem gemeinsam mit Schulen aus der Region daran, diese Kriegsgräberstätte als außerschulischen Lernort zu entwickeln, an dem die Anonymität der Toten aufgehoben wird. Dies ist eine Notwendigkeit praktischer Friedensarbeit, nicht bloß im Blick zurück auf historische Gewalt, sondern auch bei der Deutung aktueller Konstellationen: viele Russinnen und Russen protestieren trotz hoher persönlicher Risiken gegen den Krieg, den ihre Regierung in der Ukraine führt. Sie verdienen Solidarität.
Die Autorin: Dr. Sabine Mannitz ist Vorstandsmitglied im Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Mitglied des Vorstands im Landesverband Hessen.